Wer ist Friese?

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Friesische Identität heute
UPSTALSBOOM

Upstalsboom in Aurich-Rahe

Wer heute in welcher Weise auch immer Untergruppen der Gesamt-Menschheit beschreiben und von anderen Untergruppen abgrenzen will, begibt sich auf ein unsicheres Pflaster. Werden doch nur allzu leicht derartige Beschreibungen herangezogen, um irgendwelche „Qualitätsunterschiede“, „Rangordnungen“ oder dergleichen Stufungen unter Menschen zu konstatieren, die dann ebenso leicht genutzt werden können, um Herrschaftsverhältnisse unter Menschen zu installieren, zu begründen und aufrecht zu erhalten. Und dagegen hat heutzutage ein gesund empfindender Mensch eine ebenso gesunde Abneigung. Wer also irgendwelche Menschengruppen zu differenzieren versucht, kann schnell zur Zielscheibe derjenigen werden, die für ihre Art zu leben – als eine Art Gegenbild ihrer selbst, des „modernen Zeitgenossen“ – immer die Ewiggestrigen brauchen, die eigentlich nur da sind um zu zeigen, wie fortschrittlich und auf der Höhe der Zeit man selber ist.
Aber dennoch: es gibt ja die Unterschiede, und die lassen sich nicht wegleugnen: Geschlecht, Herkunft, Ethnie, religiöse und sonstige Grundhaltungen und vieles andere sind unter den Menschen verschieden. Wer das leugnen wollte, bewegte sich außerhalb der Tatsachen.
Allerdings: irgendwelche Rangordnungen definieren solche Unterschiede nicht, das tun erst die Menschen, die solche Unterschiede nutzen, um sich selbst über andere zu setzen. Das tun im Übrigen die eben charakterisierten „modernen Zeitgenossen“ auch, in besonders perfider Art und Weise sogar.
Nur so – ohne irgendwelche Herrschaftsverhältnisse oder Rangordnungen unter Menschen damit begründen zu wollen – soll hier also versucht werden zu umreißen, wie „friesische Identität“ heute vielleicht aufgefasst werden kann. Dass gerade diese Art der Charakterisierung dem beschriebenen Inhalt – der „friesischen Identität“ – in besonderer Weise entspricht, wird sich dabei zeigen.

„Identität“ kann heute nur kulturell gefasst werden

Wer heute die „Identität“ eines Menschen oder einer Menschengemeinschaft charakterisieren will, kann dies meiner Ansicht nach nur, indem er sie als Ausdruck von Kultur versteht. „Kultur“ hier allerdings nicht verstanden im Sinne eines „schöngeistigen Sahnehäubchens“ zur Verzierung der eigentlich wichtigen harten Realitäten (Herrschaftsverhältnisse, wirtschaftliche Verhältnisse etc.), sondern Kultur verstanden als Gesamtheit der Äußerungen des menschlichen Geistes. Dann sind nämlich alle anderen Verhältnisse – wirtschaftliche und rechtliche insbesondere – ebenso Ausfluß dieser Kultur wie Kunst, Wissenschaft und Religion. Denn der menschliche Geist wirkt in all diesen Lebensbereichen.
Wer also heute von einer gemeinsamen „Identität“ innerhalb einer Menschengemeinschaft sprechen will, muss dann versuchen, die Leitlinien derjenigen Kultur zu umschreiben, deren Ausdruck diese besondere „Identität“ ist. Damit betritt man ein Feld gleichsam überzeitlicher Werte, deren Ausdruck – die „Identität“ – jeweils zeitgebundene Formen annehmen kann, die aber allesamt dennoch immer auf die selben ewigen Werte zurückverweisen.

Der Kern friesischer Kultur ist die Freiheit

Auf dieser Grundlage scheint es mir statthaft zu sagen, dass der Kern friesischer Kultur, ihr leitendes Ideal sozusagen, in der Freiheit jedes einzelnen Menschen liegt. Diese Freiheit des Menschen ist ja etwas, nach dem heute mehr oder weniger bewußt jeder Mensch strebt.
Manche mittelalterliche Lebensweisen der Friesen, ihre Rechtssatzungen, ihre gesellschaftlichen Handhabungen – soweit wir heute davon wissen – scheinen für uns Heutige Verheißungen einer fernen, besseren Zukunft zu sein. Ganz sicher sind die realen Verhältnisse damals so ideal nicht gewesen, wie sie uns aufgrund von Überlieferungen heute erscheinen mögen. Dennoch – und das wird gerade durch die teilweise idealisierende Überlieferung deutlich – sind sie der damals mögliche Ausdruck des idealen Freiheitskernes friesischer Kultur gewesen. Als solche können sie auch uns Heutigen leuchten und Wege zeigen. Und in diesem Sinne ist auch ehrendes Gedenken hilfreich und wünschenswert: nicht als Überhöhung eines Früheren über das Heute, sondern als freies Anerkennen friesischer Identität in ihrer damals möglichen Form.
Wer das Alt-Hergebrachte über das Heute (und damit auch über sich selbst) setzt, ist nicht frei; er unterwirft sich ohne Not. Das wäre dem angesprochenen Freiheitsideal nicht angemessen. Der freie Friese ehrt und achtet die freien Friesen damals wie heute – frei.

Jede besondere Kultur braucht ihre besonderen Ausdrucksformen

Ihren Ausdruck gefunden hat die friesische Identität in der Vergangenheit ganz wesentlich durch ihre Sprache, und sie tut es – zum Teil – noch heute, oder heute wieder. Dabei ist allerdings im Vergleich zu anderen Kulturströmungen Europas ein gravierender Unterschied auszumachen: die schriftlich überlieferten Dokumente der alten friesischen Sprache umfassen kaum künstlerische oder religiös-mythische Texte, sondern ganz überwiegend Rechtssatzungen. Wer daraus schließen wollte, dass es Sprach- und Gesangskunst, Kultus und Mythos bei den damaligen Friesen nicht gegeben habe, schließt meiner Ansicht nach zu kurz. Die Dinge sind möglicherweise nur nicht schriftlich festgehalten worden, weil die Schriftkultur als solche als eine der Rechtssatzungen angesehen wurde.
Die vielfach überlieferte Sage von der Entstehung der „Friesischen Freiheit“ mit gleichsam göttlicher Hilfe gibt davon ein sprechendes Bild.
Darin werden die zwölf gewählten Richter (Asegen) von König Karl (später dem Großen) nach den Gesetzen gefragt, nach denen sie Urteile sprechen. Diese konnten sie ihm nicht sagen, so heißt es in der Sage, sie bitten um Aufschub, machen echte Not geltend, doch nichts hilft – es fällt ihnen nichts bei, was sie dem König sagen könnten.
Eine solche Situation läßt sich ausgehend von Ideal des freien Menschen erklären. Wer nämlich als freier Mensch im Vertrauen einen anderen Menschen zu seinem Richter wählt, diesem anderen damit Entscheidungsbefugnis über sich selbst in Streitfällen einräumt, bleibt ungeschmälert frei. Denn er hat diesen Richter gewählt, das ist und bleibt die eigene Tat. Das Verhältnis zwischen den Menschen bleibt auf Augenhöhe – frei.
Sind aber beide – der Wählende ebenso wie der Gewählte – ein und demselben von vornherein feststehenden Gesetz unterworfen, so sind beide unfrei, denn es gibt etwas, dem sie ohne es frei gewählt zu haben Folge zu leisten haben.
Das kodifizierte, abstrakte, dem Menschen übergeordnete Recht als solches ist kulturgeschichtlich gesehen ja ein Kind des Römertums. Und die Sage ist insofern sprechend: das gab es offenbar vor dieser Begegnung mit dem Römertum in Karl dem Großen bei den Friesen nicht. Möglicherweise urteilten die gewählten Richter aufgrund ihrer besonderen Eignung aus ihrem Rechtsgefühl unter Einbeziehung von ihnen bekannten Fällen der Vergangenheit – aber ohne schriftlich festgelegte Rechtssatzungen.
In unserer Zeit scheint so etwas schwer vorstellbar. Allerdings: Rechtssatzungen werden gerade in unserer Zeit mehr und mehr zum mal mehr, mal weniger von Wirtschaftsakteuren beeinflußten Herrschaftswerkzeug. Nur zu oft wehrt sich verletztes Rechtsgefühl heute gegen die Rechtssatzungen, die Bestehendes so festzurren wollen, dass Neues kaum noch eine Chance hat, in die gesellschaftliche Realaität einzudringen. Alles liegt fest, und statt mutiger, freier Schritte voraus erleben wir einen untauglichen Reparaturversuch am Bestehenden nach dem anderen. Jede Rechtssatzung kann nur so gut sein wie die Menschen, die sie zu realisieren haben. Das gilt auch bei der freien Wahl seines Richters.
Gewiss, der Rechtsstaat ist eine Errungenschaft, die wir nicht missen können. Dennoch – sind seine Formen zeitgemäß? Passen sie noch zum doch ohne Zweifel zeitgemäßen Freiheitsideal?
Um hier einmal andere Möglichkeiten zu durchdenken, ohne sich im Geiste von vornherein unverrückbare Grenzen aufzurichten – dafür kann ein Blick auf diese alte Sage von der friesischen Freiheit Anlaß sein.
Im weiteren Verlauf der Geschichte erscheint eine gleichsam göttliche Gestalt, die die zwölf Asegen vor dem Tode bewahrt und ihnen das Rüstzeug vermittelt, König Karl zu sagen, was er hören will. Und der (der ja Vertreter ist des damals gerade aufsteigenden Impulses des „Heiligen Römischen Reiches“, und der mit Feuer und Schwert Germanien christianisiert!), ja, dieser König Karl läßt aufschreiben, was die zwölf Asegen ihm sagen.
Aus meiner Sicht ist diese Sage ein Wahrbild für diesen gewaltigen Umschwung von der alten friesischen Gesellschaft, in der mündliche Überlieferung offenbar tragend war, zur römisch geprägten und in Schriftdokumenten gefaßten Gesellschaft des späteren „Heiligen Römischen Reiches“.
Und das Dokument, das dabei entstanden ist, ist dann gleichzeitig eines, das von der eigentlichen Kunst der Friesen spricht: von der Kunst eines vom Freitheitsimpuls getragenen Zusammenlebens in der mittelalterlichen friesischen Gesellschaft. Das war wohl die damalige Form des Ausdrucks friesischer Kultur. Sie sprach sich offenbar nicht aus in langen mythisierenden Epen und Gedichten, sondern im Gestalten des realen Zusammenlebens. Jedenfalls wäre so erklärlich, warum es (fast) keine Schriftüberlieferungen in friesischer Sprache aus dieser Zeit gibt außer Rechtssatzungen.

Die Sprache ist Ausdruck der Kultur

Jede Sprache in ihren differenzierten Formen ist Ausdruck einer besonderen Sicht auf die Welt. Etymologisch teilweise faßbare Wortzusammenhänge, Gefühlswerte, die sich mit Lauten und ihren Abfolgen verbinden, Melodie und Betonung geben jeder Beschreibung der Welt je nach verwendeter Sprache eine eigene Färbung und heben mal diesen, mal jenen Aspekt einer Sache in den Vordergrund. Ein Beispiel möge das verdeutlichen: das deutsche Wort „Kopf“ für den obersten Körperteil des Menschen hebt in bestimmter lautmalerischer Weise die äußere Form des gemeinten Gegenstandes hervor; deswegen kann dasselbe Wort auch für andere Gegenstände ähnlicher Form und Anordnung verwendet werden (z.B. „Kohlkopf“). Das französische „tête“ hebt etwas ganz anderes in den Vordergrund: die urteilende Funktion beim Menschen (Zusammenhang des Wortes mit lateinisch „testare“ – „urteilen“). Ein und derselbe Körperteil des Menschen ist angesprochen, und doch wird ganz Unterschiedliches betont.
In diesen Unterschieden liegt auch der Grund, warum in einer Sprache Dinge ganz einfach gesagt werden können, die in einer anderen vielleicht nur umständlich zu umschreiben sind. Die Bevorzugung des Englischen in der Popmusik zum Beispiel hat ganz sicher damit zu tun, dass das Englische sich besonders gut für den Ausdruck bestimmter Emotionen eignet.
Auf diesem Hintergrund ergbit das unterschiedliche Schicksal der ursprünglich drei verschiedenen friesischen Dialektgruppen wiederum ein sprechendes Bild. Sowohl im Westen (der heutigen niederländischen Provinz Fryslân) als auch im Norden (Nordfriesland) wurde die friesische Volkssprache von übergeordneten Standardsprachen bedrängt, die strukturell viele Ähnlichkeiten mit dem Friesischen aufwiesen, nämlich vom Niederländischen und vom Dänischen. Ostfriesland hatte als letztlich entscheidende übergeordnete Standardsprache mit dem Hochdeutschen zu tun, das strukturell einen wesentlich größeren Abstand zu den friesischen Volksdialekten aufwies. Mit dem zunächst das Friesische verdrängenden Niederdeutschen hätte sich noch eine vergleichbare Koexistenz wie im heutigen Fryslân ergeben können. Dort, in den Niederlanden konnte sich das Friesische immerhin so lange halten, dass dann im 19. Jahrhundert nach und nach ein Wiederaufleben möglich wurde (Vergleichbares gilt in Nordfriesland). Dazu blieb aber in Ostfriesland keine Gelegenheit. Das Niederdeutsche selbst kam unter denselben Druck wie das Friesische zuvor; das Hochdeutsche der Lutherbibel drängte heran, so dass von dieser ursprünglich zentralfriesischen Dialektgruppe heute nur noch die durch ihre lange sehr isolierte Lage erhaltene Sprachinsel des Saterfriesischen erhalten ist.
Und doch: das ostfriesische Niederdeutsch hat seine Besonderheiten, vor allem durch das friesische Substrat. Und die Geschichte Ostfrieslands zeigt bei aller Überformung durch von außen aufgedrückte Kultureinflüsse ihre Eigenständigkeit und immer wiederkehrende Bezugnahme auf das ursprüngliche friesische Freiheitsideal. Vielleicht kommt ja auch noch die Zeit, in der diese heute mehr gefühlte Identität sich auch wieder in friesischen Sprachformen auszudrücken lernt.

Friesische Kultur ist zukünftig

Dazu können Wege gefunden werden, wenn erst einmal der Blick auf friesische Kultur nicht mehr reflexartig in die Vergangenheit gewandt wird, sondern das friesische Freiheitsideal als etwas für alle Menschen Wertvolles, erst in der Zukunft wieder zu Verwirklichendes aufgefaßt wird. Nicht als etwas, was anderen Menschen aufzudrängen ist – das wäre ja Mißachtung der Freiheit im Anderen – sondern als ein im Zusammenleben innerhalb friesischer Menschengemeinschaften selbstverständlich Dargelebtes, das jeder für sich ergreifen kann, der dies will. Noch immer ist es ja so, dass vielfach Geburt und Herkunft (ja, leider, anders gesagt: Blut und Boden) als mehr ausschlaggebend für eine „friesische Identität“ angesehen werden als die freie individuelle Entscheidung des Einzelnen. Genau besehen, zerstören diejenigen, die ausgehend von solchem Vergangenheitsbezug die „friesische Freiheit“ gerade fördern wollen, dieses ihr Ziel selber. Unserer Zeit angemessen kann es nur sein, wenn der Einzelne, der sich dem geschichtlich in jeweils zeitgemäßer Form immer wieder aufscheinenden friesischen Freiheitsideal verbindet, eben durch diesen freien individuellen Entscheidungsakt sich selbst zum Friesen macht.
Und dann wird seine jeweilige individuelle Form, seiner „friesischen Identität“ Ausdruck zu verleihen, ein freier Beitrag zur friesischen Kultur sein – einer neuen, lebendigen, sich in eine noch ungekannte Zukunft hinein entwickelnden Kultur, nicht einer an hergebrachten Formen klebenden, die im Museum gleichwohl ihre Berechtigung hat, als Gegenstand ehrenden Gedenkens an den durch die Zeiten gehenden friesischen Freiheitsimpuls.
Der freie Friese sagt: ich bin Friese, weil ich es so will. Und das wird der andere Freie achten und respektieren.
Eala frya Fresena!

© Stefan Carl em Huisken 2017

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